Tätowierungen als Risikofaktor für Lymphomkrebs?

Tätowierungen als Risikofaktor für Lymphomkrebs?

Eine schwedische Forscher-Gruppe kommt bei ihren Annahmen über ihrer Tattoo-Studie zum Ergebnis, dass Menschen mit Tätowierungen einen erhöhten Risikofaktor für Lymphomkrebs tragen.

Am 21. Mai 2024 wurde über eClinicalMedicine (Teil von THE LANCET Discovery Science. THE LANCET selbst ist eine, wenn nicht die älteste und renommierteste medizinsche Fachzeitschrift seit 1823) ein Artikel aus Schweden veröffentlicht.

Der Titel der Tattoo-Studie lautet (Zitat):

Auf Deutsch also „Tätowierungen als Risikofaktor für maligne Lymphom: eine bevölkerungsbasierte Fall-Kontroll-Studie“ und entstammt dem Forscher-Team aus Christel Nielsen, Mats Jerkeman und Anna Saxne Jöud von der staatlichen Universität Lund in Schweden.

Was war das Ziel dieser Tattoo-Studie?

Die Forscher-Gruppe der Uni Lund nahm an, dass die Größe einer Tätowierung das Risiko für die Entstehung eines bösartigen Lymphomkrebses beeinflussen würde.

Beim Stechen von kleinen und großen Tattoo-Motiven landet die Tätowierfarbe nicht nur in der Haut und wird dort abgelagert, sondern wandert in der Abheilung auch weiter durch das Lymphsystem & Co., verteilt sich und wird teils ausgeschieden (Bioverfügbarkeit).

Da Tätowierfarben nun nicht nur aus Kräutern von der blühenden Märchenwiese gemixt sind, nahmen die Tattoo-Forscher an, dass zum Beispiel ein großes buntes Backpiece-Tattoo ein höheres Krebsrisiko beinhalten könnte, als ein Tiny-Tattoo am Unterarm.

Die Ergebnisse aus ihrer sogenannten Fall-Kontroll-Studie sollten das Team dabei allerdings eines Besseren belehren. Es stellte sich heraus, dass die Dimension des tätowierten Hautareals und damit verbundene Menge an Tätowierfarbe in der Haut wohl keine signifikante Rolle spielt.

„Signifikanz“ hat bei Statistiken eine sehr wichtige Rolle!!! Ist etwas signifikant, ist es von großer Bedeutung. Was man lieber lesen möchte ist, dass etwas nicht signifikant und eher zufällig und damit unbedeutend ist.

Aber gibt es nun überhaupt einen „signifikanten“ Zusammenhang zwischen Tattoo und bösartigen Tumoren im lymphatischen System?

Die Lund-Studie besagt nun nach eigenen Angaben und Annahmen nach Auswertung und bisher nicht bestätigt, dass das Risiko für Tätowierte an einem bösartigen Lymphomkrebs zu erkranken um 21% steigt.

Tätowierungen als Risikofaktor für Lymphomkrebs? – Moment mal bitte!

Seit der 1st BfR-Conference on Tattoo Safety in Berlin 2013 heißt es in der Tattoo-Forschung nach Prof. Dr. Jørgen Serup (Departement of Dermatology Copenhagen) und Kollegen im Zitat:

„We don’t see cancer! I repeat, we don’t see cancer in tattooed skin, even in lymphnodes!“

Das bunte Lymphknoten-Phänomen ist in der Tattoo-Community und darüber hinaus unlängst bekannt und irgendwie erduldet. Aber nun soll es plötzlich ein 21-prozentiges Risiko für Lymphomkrebs vorliegen, wenn man sich hat tätowieren lassen?

Vielleicht mal ganz von vorne

Fangen wir bei der schwedischen Universität Lund an und woher die Tattoo-Studie stammt. Das ist wahrlich nicht irgendeine Universität. 1666 entsprungen aus dem schon seit 1425 bestehenden Studium generale, ist man damals noch zur Uni geritten. Heute zählt sie mit ihren acht Fakultäten zu den größten Universitäten Skandinaviens und ist u.a. Mitglied im Verbund der League of European Research Universities (LERU).

Hauptgebäude Universität Lund Schweden Foto Copyright sigurcamp Getty Images canva for Doc Tattooentfernung 2024

Also Wissenschaft at its best, darf man meinen!!! Und wer sind die Tattoo-Forscher?

Christel Nielsen ist Associate Professor in der Abteilung für Arbeits- und Umweltmedizin. Das heißt, sie hat als Doktorin einen Lehrstuhl an der Uni Lund und ist zudem Forschungs-Gruppenleiterin in der Epidemiologie. Eines ihrer Themen ist die Auswirkungen von Tätowierungen und anderen Körpermodifikationen auf die Gesundheit.

Dazu ist sie Mit-Initiatorin der 2021 in Schweden gegründeten Swedish Tattoo and Body Modifications Cohort (TABOO) mit bisher über 13.000 Teilnehmern.

Mats Jerkeman ist Professor an der Uni Lund, Oberarzt in der Onkologie und Leiter der klinischen Forschung rund um Lymphome.

Anna Saxne Jöud ist Associate Professor und Forscherin in der Abteilung von Christel Nielsen und konzentriert ihre Arbeit in der Epidemiologie u.a. auf Lebensstilfaktoren (Tattoo und Laser).

Dreimal Professor klingt also schonmal seriös und mit der Uni Lund im Backround, hat das meist Gewicht.

Aber was ist ein „außerordentlicher Professor“. Unordentlich vielleicht? Nein, es ist einfach die erste Berufsbezeichnung, nachdem man seinen festen Lehrstuhl an der Fakultät erhalten hat (Doktor vorausgesetzt) ohne Habilitation. Eine sogenannte Lehrprofessur, wobei man den Titel nach Amtsniederlegung nicht mehr führen darf.

Es kommt aber auch auf das Land und seine Beförderungsrichtlinien an. Aber solch einen Lehrstuhl an der Uni Lund bekommt man sicherlich auch nicht so einfach gescheckt.

Zurück zur Tattoo-Forschung

Es steht sicherlich ausser Frage, dass Wissenschaft unserem Leben an unzähligen Stellen Erkenntnis, Klarheit und Sicherheit gibt.

Wenn dazu dann noch Rahmenbedingungen allererster Güte – tolle, uralte renommierte Uni mit hochengagierten Studenten und Wissenschaftlern, verbunden mit der höchst respektierten Medizin Fachzeitschrift – geschaffen wurden, dann darf man derer Veröffentlichungen sicherlich eher vertrauen, als so mancher über den Kleingartenzaun geschmetterter Lebensweisheit. Nix gegen Kleingärten oder dort entsprungener Lebensweisheiten!

Die Wissenschaft ist leider nicht unfehlbar

Auch eine Fall-Kontroll-Studie von der Uni Lund aus Schweden muss kontrolliert und vor allen Dingen bestätigt werden!!

Wer die Schweden-Studie wirklich mal bis zum Ende gelesen hat und sich mit solchen Arbeiten auskennt, dem dürfte wohl eine oder beide Augenbrauen kurz verrutscht sein. Je nach Überschrift und Absatz, und persönlichem Kenntnisstand zur Sache, vielleicht sogar in verschiedene Richtungen.

Die Überschrift alleine mag dem ein oder anderen dabei einen feuchtkalten Schauer über sein Backpiece spendiert haben. „Tattoos als Risikofaktor“ wurde nicht nur der Tattoo-Community die letzten Jahre mehr als genug unter die Nase gerieben.

Ob in Verbindung mit Hygiene, Handwerk oder Farbrezepturen. Gesundheit und Verbraucherschutz steht bei allen (oder vielen) oben drüber und gilt dabei als Freund und Förderer der Arbeit an der guten Sache.

Ohne die Forschung gäbe es hierbei natürlich keine neuen Erkenntnisse und diese brauchen wir für unser aller Sicherheit.

Im Bereich Tattoo wird übrigens schon seit 1859 geforscht

„Schlafende Hunde“ weckt man hier also bestimmt nicht mehr. Jedenfalls sind das hier die zeitlichen Angaben, wenn wir bei PubMed® der NIH – National Library of Medicine in der Datenbank unter dem Begriff ‚Tattoo‘ nachschauen und die Erstveröffentlichung von Schuh zum Thema „Über das Färben der Lippen durch Tätowieren nach einer Cheiloplastik“ (Lippenrekonstruktion – übrigens 1st Medical Tattooing) als Maßstab nehmen.

Seither ist aber doch so einiges in der Tattoo-Forschung passiert. Wer mag, kann gerne mal die bis heute bei PubMed angesammelten 6.711 Paper-Links durchklicken und sich ein eigenes Bild dazu machen, wie viel Risiko im Tattoo steckt.

Dabei sollte man aber auch bedenken, was in unserer Überschrift schon erwähnt wurde. Wissenschaft ist leider nicht unfehlbar. Dabei sollte man auch bedenken, dass mögliche falsche Alarme in den Überschriften nicht unbedingt auf böse Absichten hindeuten.

Sie müssen nicht einmal auf schwache Methoden in der Erarbeitung oder Interpretation von Daten hinweisen. Dabei sollte man, wenn möglich, nie nur eine Studie zum Thema lesen oder gar machen.

Oft geschieht es, dass bestehende Erkenntnisse durch neue Ergebnisse bestätigt oder eben widerlegt werden. Ob Eisen im Spinat für große Muskeln oder blaues Haarfärbemittel für Prostatakrebs ursächlich ist, …

„manchmal sind die Daten einfach nur eigenartig und die Risiken einer etablierten Vorgehensweise werden fälschlicherweise übertrieben.

So das Zitat von Dr. Ken Springer (Emeritus, Psychologie und Pädagogik, USA), der sich ebenfalls sehr ausgiebig mit der Schweden-Studie, gemeinsam mit Wissenschaftskollegin Dr. Andrea Love (Immunologin und Mikrobiologin, USA) ausgetauscht und lesenswert darüber in seinem Blog geschrieben hat. Man sieht, die Headline der Schweden-Studie hat es auch über den Teich geschafft. Glückwunsch!

Burkitt’s Lymphom Foto Copyright  Science Photo Library canva for DocTattooentfernug 2024

Tattoo als Risikofaktor für maligne Lymphome

Ehrlich? DAS will niemand auch nur in irgendeiner Verbindung lesen. Weder im Bereich Tattoo, noch sonst wo. Maligne bedeutet bösartig!

Lymphome fassen verschiedene Erkrankungen des lymphatischen Systems zusammen. Zum lymphatischen System gehören die Lymphknoten, die Mandeln und die Milz. Lymphatisches Gewebe findet sich dabei auch an anderen Stellen im Körper, wie im Darm, Magen oder eben in der Haut wieder.

Ihre weißen Blutkörperchen (Lymphozyten) entstehen aus Stammzellen im Knochenmark und entwickeln sich über Zwischenstufen verschiedener Zellarten mit unterschiedlichen Funktionen für die Reaktion unserer Immunabwehr. Bei Lymphomen wachsen und entwickeln sich diese weißen Blutkörperchen leider unkontrolliert.

Die zum lymphatischen System gehörenden Lymphknoten (kleinste Filter und Mülltonnen unseres Immunsystems) kennt die Tattoo-Community nicht erst seit Prof. Dr. Wolfgang Bäumler (Tattooforscher, Uni Regensburg) und ihrer herausgeschnittenen bunten Form im Foto- Großformat, sondern auch dank Rechtsmediziner Prof. Dr. Tsokos‘ (Charité Berlin) feinstem Social-Media Videomaterial mit Küchenhandtuch und Fleischermesser direkt und live vom Sektionstisch.

Fun-Fact zwischendurch, und damit der Kaffee nicht kalt wird, beide finden keinen erwiesenen Zusammenhang (Kausalität – wichtig!) zwischen bunten Lymphknoten und Krebs. Aber…

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Mehr Informationen
Eine medizinisch genaue 3D-Animation des menschlichen Lymphsystems, Copyright SciePro GmbH Potsdam – so cool!! Danke an @susannebrech für den Tipp an dieser Stelle.

Was ist mit den Zellen im Lymphsystem?

Diese Frage hat sich, wie eingangs bereits erwähnt, das schwedische Team um Christel Nielsen et al. gestellt und dazu diese sogenannte Fall-Kontroll-Studie erstellt.

Das heißt, man befragt eine Gruppe von Menschen, bei denen im Laufe ihres bisherigen Lebens ein Lymphom diagnostiziert wurde (retrospetiv) und befragt zur Gegenkontrolle und Sicherheit eine ähnliche Gruppe, die frei von Krebs ist. In beiden dieser Gruppen befanden sich zudem natürlich Tätowierte als auch Nicht-Tätowierte.

Ziel ist es über diese Methode herauszufinden, ob Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens einmal tätowiert haben lassen, einem höheren Risiko an Lymphomkrebs zu erkranken ausgesetzt sind, als Menschen, die nie tätowiert wurden aber trotzdem am Lymphom erkrankten.

Wer am Schluss häufiger erkrankt ist, kann u.a. anhand der sogenannten Inzidenzraten-Verhältnisse (IRRs) aus den Studien-Daten abgelesen werden.

Klingt kompliziert, ist es für den Profi aber eigentlich nicht. Der erkennt auch, dass Parameter einer Studie sehr gerne mal zu Gunsten eines gewünschten Ergebnisses verschoben worden sind…. sorry, sein könnten!! Dazu kommt es auch noch auf die richtigen und präzisen Fragen im Katalog an.

Um in Schweden nun nicht von Haustür zu Haustür gehen und die Leute interviewen zu müssen, hat sich die Forschergruppe ans schwedische Krebsregister gewandt. Viele Nationen auf der Welt sammeln Daten von ihren Patienten. Nicht nur im Bereich Krebsforschung aber dabei läuft es besonders gut, genau und umfangreich.

Dabei war es den schwedischen Forschern auch bequem möglich, auf Daten von 2007 bis 2017 zurückzugreifen, bei denen ihren 20 – 60 jährigen Landsleuten ein Lymphom diagnostiziert wurde. So fand man eine endgültige Stichprobe von 2.398 Krankheits-Fällen.

Kontrolle ist wichtig!

Aufpassen sollte man ab hier dann bei der Kontrollgruppe gegenüber den Krankheitsfällen, dass sich die Patienten möglichst ähnlich sind. Abgefragt wurde neben dem Geschlecht, Alter, Familien- und Bildungsstand auch, ob man Raucher, ehemaliger Raucher oder Nicht-Raucher sei.

Wir können hier vorwegnehmen, dass leider einige relevante Daten nicht mit abgefragt wurden oder undeutlich für die Befragten formuliert zu sein schienen. Von den 2.938 Krankheits-Fällen antworteten wohl nur 1.389.

Denen standen zur Kontrolle 4.193 krebsfreie Studien-Teilnehmer gegenüber, wobei sich in beiden Gruppen rund ein fünftel Tattoo-Trägerinnen und -Träger befanden. Bei Ihnen fragte man nach der Anzahl, Größe und Alter der Tätowierungen und wann man sich sein erstes Tattoo hatte stechen lassen.

Eine wichtige Erkenntnis oder besser Annahme aus den Studien-Ergebnissen sorgt nun für heftige Schlagzeilen mit „richtig nice“ klickbaren Keywords. Jedenfalls „nice“ für die NEWS-Industrie vom Dorfblättchen bis hin zum seriösen Mediziner-Fachblatt oder gar ins Mode- oder Manager-Magazin. Is‘ klar!

Risikofaktor für maligne Lymphome Foto Copyright Juan Moyano canva for Doc Tattooentfernung 2024

„Mindestens eine Tätowierung erhöht das Lymphom-Risiko um 21%“

What a pitty! Zu dieser Aussage möchte ehrlich gesagt niemand gelangen!

Nach der ersten Schockstarre und hektischer Vorab-Reservierung von Buche-, Eiche-, Mahagoni-Kiste lackiert, natur oder gleich die Urne, kommt nach einer Bild-Headline (Zitat) „Erschreckende Studienergebnisse >> Tattoos erhöhen das Krebsrisiko um ein Fünftel“ (vom 27.05.2024; Text: Miriam Koll für Bild; Artikel bitte selber googeln.) erstmal ein buntes Foto.

Der Gedanke beim Blick darauf „och guck, tätowiert noch mit ’ner ollen Spulenmaschine“, lenkt zum Glück erstmal ab.

Beim weiteren scrollen durch die bunte Buchstabensuppe springen einem dann im Bild-Artikel nicht nur die 11.905 Teilnehmer und 2.938 Lymphom-Kranke zielsicher ins Auge, sondern auch noch das Ergebnis in Fettbuchstaben und -> dran: „Ein Tattoo erhöht das Risiko, an einem Lymphom zu erkranken, um 21 Prozent – unabhängig von seiner Größe“. (Zitat)

Oh, nicht gut!

Was haben die Schweden bitte für ein Problem?

Nun gehört Schweden mit seinen rund 10,5 Millionen Einwohnern nicht zu den am dichtesten bevölkerten Regionen unserer Erde. 2.938 katalogisierte Lymphoma-Patienten (unsere Anteilnahme sei Euch sicher) aus einem Querschnitt von 10 Jahren (2007-2017) im Alter zwischen 20 bis 60 Jahren, ist nicht unbedingt eine mörderfette Ausbeute für eine epidemiologische Tattoo-Studie. Es macht sie zwar gerade so glaubwürdig aber den Bereich für Fehler auch erheblich groß.

Dabei ist es im Lymphoma-Fall zum Glück so, dass es eine eher seltene, wenn auch leider oft schwerwiegende und vermehrt mit späteren Alter 50+ auftretende Krebs-Erkrankung sein kann.

Aber irgendwas ist doch bei den Zahlen merkwürdig?! Wie kommt die Bild auf ein Fünftel erhöhtes Erkrankungsrisiko bei den Tätowierten? Okay, es ist ein Nielsen-Zitat.

Jetzt muss man die Schweden-Studie doch mal ganz lesen

Und zwar am besten vom Anfang bis zum Ende!

Fulltext: https://www.thelancet.com/journals/eclinm/article/PIIS2589-5370(24)00228-1/fulltext

eClinicalMedicine, ARTICLES| VOLUME 72, 102649, JUNE 2024, Part of THE LANCET Discovery Science, Christel Nielsen et al., published May 21, 2024, DOI: 10.1016/j.eclinm.2024.10262649

Da stellt sich gleich in den ersten Zeilen heraus, dass die Schweden-Studie nicht in THE LANCET selbst erschienen ist, sondern über einen freien Zugang im eClinicalMedicine (ein Teil von THE LANCET Discovery Science) lesbar ist.

Ein paar Lesebemühungen weiter entdeckt man dann, dass es sich bei den 11.905 erwähnten Personen nicht um klassische Studien-Teilnehmer, sondern um die „Untersuchungs-Bevölkerung“ handelt.

Übersetzt sind das diejenigen, die man nach den schwedischen Filter-Parametern gesamt aus der Adresskartei gezogen hat.

Diese wurden dann mit einem Fragebogen angeschrieben und gebeten Auskunft zu geben. In der Untersuchungsbevölkerung sind aber, neben den sogenannten Krankheits-„Fällen“, auch gleich die gesunden „Kontrollen“ mit eingebunden.

Von den Krankheits-Fällen haben von 2.938 Angeschriebenen nur 1.398 geantwortet und bei den Kontrollen 4.193.

Es sind also „nur“ 5.591 Studien-Teilnehmer. Auffällig ist dabei, dass auf beiden Seiten mehr bunte als blasse Teilnehmer geantwortet haben. Dafür lieben wir die Tattoo-Community!!! Die Studie ist dadurch aber ab hier eventuell nicht nur einseitig underpowered, sondern eben in der Kontroll-Gruppe verschroben. Die Schweden haben also ein Problem.

Wer anscheinend noch ein Problem hat, ist die ein oder andere Redaktion!

Zumindest haben einzelne Schreiber-Buden noch den Konjunktiv II nebst Fragezeichen in ihre zugehörige Headlines gebastelt, wie es die Studien-Verantwortlichen bei ihren ANNAHMEN an UNZÄHLIGEN Stellen selbst getan haben.

Die Copy-Cats halten es da eher locker und glauben dem benachbarten 15plus-Zeiler einfach stumpf. In Echt werden aus den suggerierten „ein Fünftel von 11.905 alten Schweden“ (das wären btw. 2.381) in Wirklichkeit eine 21%ige Tätowierungsprävalenz bei den Fällen und 18 % bei den Kontrollen, die geantwortet haben. Also noch 294 Fälle mit dem Phänomen eines eventuellen, „nicht signifikanten“ Lymphoma-Risikos im nicht erwiesenen Zusammenhang (Kausalität) mit einer Tätowierung.

Btw., dass Nielsen et al. ihre kanadischen Kollegen Freda Warner et al. und deren Studie „Tätowierungen und hämatologische Malignome in British Columbia, Kanada“ (Risiko von Lymphkrebs wie Non-Hodgkin-Lymphom (NHL) und Multiplem Myelom bei Tätowierungen) von 2020 klein machen, ist nicht die feine Art. Hier konnte auf Daten aus 2000 bis 2004 übrigens auch schon kein erhöhtes Risiko festgestellt werden.

Hätte sich die Bild-Redakteurin nun dazu mal die Statistiken zur tätowierten Bevölkerung in Schweden, anstelle von Deutschland (übrigens 36% und nicht 17%) bei statista genauer angesehen, hätte sie vielleicht entdeckt, dass Schweden 2018 mit 47% auf Platz 3 der buntesten Völker stand.

Es kommen nach Uni Lund, Nielsen et al. also 294 tätowierte Lymphoma-Fälle auf rund 4.900.000 bunte Schweden. Das Risikoverhältnis wäre dabei selbst bereinigt und hochgerechnet nicht in Prozent, sondern fast schon eher in Parts per million / ppm. anzugeben und mangelt daher an öffentlichem Interesse. „Nicht signifikant“!

2022 lag die betrübende Anzahl an Lymphom-Krebs-Erkrankungen in Schweden übrigens bei 2.870 laut Cancerfonden, ohne weitere Berücksichtigung von bunter Haut.

Die Bild-Headline (Zitat) „Tattoos erhöhen das Krebsrisiko um ein Fünftel“ mit ihrer „Erschrick Dich mal“-Dachzeile, aber auch viele andere Artikel-Überschriften selbst renommierter Blätter sind also, höflich ausgedrückt, nicht unbedingt das Gelbe vom Ei.

Tattoo als Risikofaktor Unterschlagung wichtiger Details Foto Copyright  Marisa9 Getty Images canva for Doc 
Tattooentfenrung 2024

Viele Presseartikel unterschlagen dazu wichtige Details

Eine essenzielle Information wäre als Beispiel, dass dieses erhöhte 21% Risiko nur für den Zeitraum innerhalb der ersten 2 Jahre nach dem ersten Tattoostechen festgestellt wurde.

Dies auch nur bei eher kleineren Einzel-Motiven, bei denen es nicht auf die Größe oder Farbgebung/ -Intensität ankam.

Das Risiko bestand hingegen nicht, wenn man im Vorfeld schon eine Tätowierung hatte oder sich sogar größer dimensionierte Tattoo-Motive hat stechen lassen.

Welch ein Phänomen!

Man dürfte – so wie die Schweden – doch eigentlich erwarten, dass das Krankheitsrisiko mit zunehmender Tätowierfarbe in der Haut steigt?!

Dem ist aber laut Studien-Ergebnis in Schweden nicht der Fall. Auch nicht beim Zweit-Motiv, bei dem das 2-Jahres-Risiko ja eigentlich wieder von vorne hätte beginnen müssen.

EASTER-EGG Suche

Wer Zeit und Spaß daran hat, der kann gerne mal im digitalen Artikel-Wollknäuel danach suchen, ob in einem Pressetext darauf hingewiesen wurde, dass das Studien-Ergebnis der Nielsen-Gruppe noch „unbestätigt, nicht geprüft“ bzw. „nicht validiert“ ist.

Noch wichtiger ist zusätzlich der Hinweise, dass es sich um ein rein zufälliges Phänomen handelt (Korrelation), dass ein Lymphtumor im Zuge (oder besser irgendwie im gleichen Zeitraum) eines Tattoos entstanden sein „könnte“.

„Tattoos machen keinen Krebs“

Diese Überschrift ist für die Studien-Macher als auch viele Redakteure wohl einfach zu billig und langweilig.

Nielsen selbst umschreibt es hier und da im Zitat: „Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Lymphome eine seltene Krankheit sind und dass unsere Ergebnisse auf Gruppenebene gelten. Die Ergebnisse müssen nun in anderen Studien überprüft und weiter untersucht werden, und solche Forschungen laufen.“

Übersetzt heisst das wohl so viel wie: „Dingdong, die Hex‘ ist tot. Lymphome sind supi selten und so richtig coole „Ergebnisse auf Gruppenebene“ (294 Fälle mit Tattoo) konnten wir dem Tattoo als Krebsmacher für unsere Schweden dabei – selbst nach zig Annahmen und Nachjustierung – nicht wirklich anlasten. Aber wenigstens haben wir als erste das Thema im Äther und läuft krass gut über den News-Ticker. Lund in aller Munde…! Der Arbeitsplatz ist sicher.“

Forschung wird fortlaufend betrieben

Um es hier abschliessend bei allem Wirrwarr um die Schweden-Studie und ihre sich verbreitende Horror-Meldung noch klarzustellen.

Tattoo-Gesundheit ist ernst zu nehmen und in diesem Bereich wird seit Jahren und Jahrzehnten von vielen unterschiedlichen Stellen geforscht.

Das unterstützen wir selbst mit Herz und Hand und halten uns dabei an diejenigen, die sich tagein, tagaus damit bis ins Detail beschäftigen.

Wer mehr zum Thema Tattoo-Forschung und -Gesundheit erfahren möchte, der schließt sich am besten unserer European Society of Tattoo and Pigment Research ESTPresearch an.

In ihren Reihen findet man u.a. auch Mitglieder aus der „BfR Commission on Tattoo Inks„, die als ehrenamtliches und unabhängiges Expertengremium das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung zu Fragen der Sicherheit und Risikobewertung von Tätowiermitteln berät.

Und wie sieht das Krebs-Risiko in Verbindung mit der Tattooentfernung mittels Laser aus?

Wir gehen im Zusammenhang mit der Schweden-Studie darauf nicht weiter ein und verweisen an dieser Stelle lieber auf den Wortlaut der kürzlich erschienenen Stellungnahme der drei renommierten internationalen Derma-Fachgesellschaften EADV, ESLD und SFLD.

Noch tiefer in die Schweden-Studie und epidemiologische Tattoo-Forschung eintauchen

Wer sich mit der Interpretation und detaillierten Analyse der Schweden-Studie gewissenhafter auseinandersetzen möchte, dem empfehlen wir (neben der ESTPresearch) Dr. Nicolas Kluger via Instagram und Frau Dr. Milena Foerster von der IARC und EpiTat zu folgen.

Dr. Nicolas Kluger https://www.instagram.com/the_tattooed_derm/ ist u.a. Chairman der European Academy of Dermatology and Venerology (EADV) Taskforce „Tattoo and Body Art

Dr. Dipl. Psych. Milena Foerster, von der International Agency for Cancer Risk (IARC) in Lyon (Frankreich), ist als wissenschaftliche Leiterin u.a. mit der Erforschung zu möglichen langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen von Tätowierfarben beschäftigt. https://tattoo.iarc.who.int/

Hier findet man auch die Links zu den Kohorten, wie Cancer Risk Attributable to the Body Art of Tattooing (CRABAT) in Frankreich und der NAKO Gesundheitsstudie in Deutschland. Die sind vor allen Dingen nicht nur weitaus größer und umfangreicher, sondern auch langfristiger und genauer.

Lesenswerte Stellungnahmen der Tattoo-Verbände Frankreich und Deutschland zur Schweden-Studie

Syndicat National des Artistes Tatoueurs (S.N.A.T.) – Quand on cherche, on trouve!

Bundesverband Tattoo (BVT) e.V. – Pressemitteilung/Stellungnahme zur Berichterstattung über die „Schweden-Studie“ vom 30. Mai 2024

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